Leid und Tod als Grenzerfahrung im Alltag

Im Leid mit dem "eigenen Kreuz" lerne ich, Mensch zu bleiben zusammen mit Ängsten, Einsamkeit, Krankheit, Behinderung, Sterben.

Auf der Grenze zwischen Leben und Tod begegnet der Mensch seinem Sterben. Krankheit erlebt er ebenfalls wie Sterben in einer Spannung zwischen Ohnmacht gegenüber dem, was ihm angetan wird und dem, was er aus diesem Leben mit der Krankheit, mit seinem Sterbenmüssen macht.

Deshalb verstehen wir unheilbare Krankheiten und das Sterben als aus vielen Leiden und einem Leid gebildete Ereignisse. Diese Idee - das dem Mensch eigene Leid – sei hier erläutert: Stellen wir uns einmal vor, wir würden aufgefordert, unser Kreuz, „das Kreuz, das jeder mit sich herumträgt“, mit anderen auf einen Haufen zu werfen. Wenn wir dann wieder aufgefordert würden, wieder „ein Kreuz auf uns zu nehmen“, weil das ja zum Leben dazugehört, welches, wenn nicht das eigene, würden Sie wohl aus dem Haufen aussuchen? Dieses "eigene Kreuz" meint das Wort "Leid“.

Leid – Leiden

Im Leid mit dem "eigenen Kreuz" lerne ich, Mensch zu bleiben zusammen mit Krankheit, Behinderung, Sterben. Leiden treiben mich in Ohnmacht, machen mich unfrei. Also gilt es, Leiden, so weit es geht, zu überwinden, zu behandeln, zu therapieren mit Medikamenten, Psychotherapie u.a.; das Leid aber muss durchlebt und geschützt werden; niemand darf daran gehindert werden, "sein Kreuz" zu tragen. - Nun wurde in den vergangenen Jahren viel wissenschaftliche Energie in die Überwindung der Leiden und Schmerzen investiert, und das war gut so. Jetzt aber müssen wir die gleichen Anstrengungen zum Schutz des Leids leisten, damit nicht der Mensch bei der Beseitigung der Leiden ebenfalls beseitigt wird, wie es Vertreter der Euthanasie proklamieren.

Der Kampf gegen die Ursachen kann nicht unsere einzige Reaktion auf die Schmerzen und die Leidensgeschichte des einzelnen Menschen sein, denn dieser Kampf könnte ja u. U. auch durch die Tötung des Leidenden (z.B. aktive Sterbehilfe) gewonnen werden. Dabei bliebe eine wesentliche Dimension bei den Kampfansagen unberücksichtigt: Unsere Mitwirkung an der Umwandlung der Leiden in das Leid, das Energie und Kraft sein kann. Der Philosoph SENECA sagte: "Wer Sterben gelernt hat, hat aufgehört, Knecht zu sein“. Der jüdische "leidende Gottesknecht" wandelte - wie später Jesus Christus - die Leiden der Menschen, indem er diese als sein Leid auf sich nahm, also durch Stellvertretung. Aber wir sind vielleicht keine Gottesknechte. Wie könnte uns dann der Schutz des Leids in uns und unseren Mitmenschen gelingen?

Das Sterben eines Menschen, seine Krankheiten, seine Behinderung können von ihm persönlich und aktiv durchlebt werden, wenn sie als Leid erfahren werden, weil er sie sich dann zueigen gemacht hat. Menschlicher Beistand kann dabei aber nur aus vollem Leben heraus gelingen, d.h. durch intensives Zusammenleben mit Kranken, Behinderten und Sterbenden. Wie ist das möglich?

Mit Schmerzen und Leiden gibt es keine Versöhnung, erst recht nicht, indem man den Leidenden anbietet, sie durch Tötung von ihren Leiden zu befreien, wie es die Sterbehilfe-Gesetze in den Niederlanden nahe legen. Das eigene, unverwechselbare Leid braucht keine Versöhnung, es ist eine solche, so z.B., wenn ein Krebspatient seinen Tumor als "verschluckte Tränen" bezeichnet; oder wenn jemand sein Sterben unter Protest zwar, aber doch bereitwillig, ja vielleicht sogar freudig annimmt.

Die Wandlung von Leiden in Leid könnte damit beginnen, dass wir uns unsere Geburt persönlich aneignen, gewissermaßen als Vorgriff auf die "zweite Geburt", das Sterben; denn der letzte Übergang entspricht weitgehend dem ersten. Die Geburt aneignen hieße z.B. akzeptieren lernen, dass und wie ich geboren bin, und dass die eigene Geburt auch meine "Leistung" war, wie der Tod mein eigenes Leid sein könnte. Eine Besinnung auf das eigene, leidvolle Sterben hat bei dem eigenen Geborenwerden anzufangen. Denn durch das Sterben gehen wir, wie durch Geburt, aus Unfreiheit, Enge, Anhängigkeit in Freiheit, Weite, Souveränität. Allerdings wurden wir auch aus Geborgenheit in Ungeborgenheit hineingeboren und im Sterben verlassen wir vielleicht die Ungeborgenheit des Lebens auf eine Geborgenheit in Gott hin.

Dieses Beispiel macht den komplizierten Ansatz deutlich; Umwandlung der Leiden bis zur Aneignung als "mein Leid" bedeutet eben vielfaches Umdenken und Besinnen.

Wie müssen wir die Entfaltungsmöglichkeiten der kranken und behinderten Menschen, wie das Sterbezimmer gestalten, wenn wir nach solcher Wandlung sterben? Bei uns sterben viele Menschen nicht ihren eigenen Tod, sondern den von der Mitwelt erwarteten, und sei es nur, dass man sie medikamentös hinüberdämmern lässt.

Einsamkeit - Vereinsamung

Es darf in der begleitenden Beziehung nicht wegtherapiert werden, was als "sein Kreuz" zum Menschen gehört. Dies soll an einigen Beispielen verdeutlicht werden:

An Einsamkeit, Furcht und Trennung. Von ihnen behaupte ich, dass sie Heilsam sein können für Krankheit, Behinderung und Sterben. Selbstverständlich bleibt es unsere Aufgabe, immer gegen Vereinsamung, Ängste und aufgezwungene Verluste der Kranken, Behinderten und Sterbenden zu kämfen. Aber noch verhängnisvoller als der Vorwurf, wir würden menschen allein oder vereinsamen lassen, wäre wohl die Feststellung, ihnen werde vielfach die Einsamkeit verboten oder unmöglich gemacht. In der leidvollen Einsamkeit – dem aktiven Gegenüber zur Vereinsamung – hat der Mensch die Chance des „Bei-sich-seins“, in ihr wird er „seiner selbst inne, seiner inneren Welt mächtig“, und das bedeutet nicht nur, dass kein anderer da wäre, mit dem er es zu tun hätte, es bedeutet etwas Positives: Das Einsam-Sein als „eins mit sich und dem lebendigen Gegenpol zum All“ (Romano Guardini). Das kann auch zusammen mit anderen Menschen erfolgen. Dann gewinnt der Mensch mit Krankheit und Sterben wirklich ein Verhältnis zu sich selbst und zu seinem Gott. Einsamkeit bleibt ein Leid, aber nicht bedrohlich oder zerstörend wie die Vereinsamung. Nur der vereinsamte Mensch neigt zu Selbstverletzung, Selbsttötung, Entfremdung vom eigenen Körper. Deshalb ist es nicht unsere Aufgabe, immer viel bei den Kranken zu „veranstalten“ sondern eher bei ihnen auszuharren.

Angst – Ängste

Wir sind aufgefordert, zwischen den schmerzvollen, medikamentierbaren, therapierbaren Ängsten und der einen Angst oder "Furcht" zu unterscheiden, ohne die wir nicht zu leben in der Lage wären, besonders nicht in Krankheit und Sterben. So gibt es Angst vor Dunkelheit, Kälte, Schmerzen, vor Sterben als Alleinsein. Dagegen muss viel getan werden. Aber die "Gottesfurcht" und die Ehrfurcht, die Angst vor der Nichtigkeit des ganzen Lebens, die Todesangst als Angst gegenüber dem ganz Fremden sind nicht behandelbar, sondern schützenswert. Den Betroffenen muss deutlich gemacht werden, dass sie diese Angst nicht nur haben dürfen, sondern dass sie fruchtbar ist, auch wenn sie weh tut.

Trennung - Verluste

Ähnliches gilt für Verluste. Sie sind zumeist sehr schmerzlich, denn sie wurden angetan; sie sind eine Bedrohung unserer seelischen Gesundheit und können in Trauerreaktionen manchmal kaum bewältigt werden, so z.B. bei der Trauer über die nicht mehr so große Beweglichkeit eines alten Menschen, oder über Erkrankungen usw. Manchmal mündet Trauer sogar in körperliche oder psychische Krankheit. Demgegenüber aber können Trennungen einen entscheidenden, vielleicht sogar den letzten Lernprozess vorbereiten, z.B. wenn Hinterbliebene nach einem Tod ein "ganz neues Leben" beginnen, oder wenn Eltern sich von ihren erwachsenen Kindern trennen - auch hier ist eine Wandlung hilfreich und notwendig. Gelänge es uns nämlich, die Leiden der Verluste in leidvolle Trennung zu verwandeln, welche wir persönlich vollzögen, so erwüchse durch die Beeinträchtigung sogar durch das Sterben ein Lebensimpuls. Trennung von Partnern, Fähigkeiten, Organen und Gesundheit, Trennung von der Welt und dem zusammen mit der Mitwelt durchlebten Leben bleibt ein Leid, aber eines, das aufbaut und nicht zerstört.

Einsamkeit, Angst und Trennung leben und aushalten können ist eine leidvolle Fähigkeit, die im Leben und Sterben benötigt, vielleicht dann erst erworben wird. Sie hat keinen destruktiven, niederdrückenden Charakter, darf aber auch nicht mit therapeutischen "Tricks" abgeschafft werden. Leiden und Schmerzen sind und bleiben der Revolte und des Kampfes wert; das Leid persönlicher Einsamkeit, Trennung und Angst braucht menschliche Nähe und die Erlaubnis, durchlebt zu werden.

Den Grenzerfahrungen von Leid, Einsamkeit, Angst, Trennung, Sterben und Tod können wir nur gerecht werden, wenn sich Gemeinschaften wie Familienkreise, Gesprächsgruppen, Selbsthilfegruppen bilden, in denen die Menschen sterblich leben dürfen. Für die damit zusammenhängenden Aufgaben bilden sich in unseren Tagen Initiativen, die z.B. den alten "Vereinigungen für einen guten Tod" entsprechen. Sie tragen den Namen "Hospiz" oder "OMEGA" und in ihnen arbeiten berufliche Helfer, Ehrenamtliche und Angehörige zusammen, für den richtigen, angemessenen Abschluss der "Lebenswege Sterbender".

Franco Rest